Tristesse
Wenn einer damit beauftragt würde, einen Film über Corona zu produzieren, der die Gleichzeitigkeit von Dramatik und Tristesse im Lockdown transportieren solle, dann wäre dieser Film mit großer Wahrscheinlichkeit kein Kassenschlager. Denn die Erfahrung, die wohl die meisten Menschen in dieser Situation geteilt haben, war von Isolation und Unsicherheit geprägt. Die Isolation war notwendig, um mögliche Ansteckungen zu verhindern, die Unsicherheit rührte von der Unwissenheit über den weiteren Verlauf der Pandemie sowie mögliche Mutationen des Virus und den Erfolg der Entwicklung von Gegenmitteln her. Es zeugt von einer bitteren Ironie, dass gerade die globale Krise, die das Potential hat, die bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen zu erschüttern, zunächst dafür sorgt, dass soziale Institutionen wie der Staat oder die Regierung Maßnahmen ergreifen, die die Mechanismen der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung verstärken. Zwar preisen Fürsprecher einer neoliberalen Ideologie gerne die Globalisierung als egalitären Mechanismus, der für ein “Zusammenwachsen” der Erdenmenschen sorgt, doch tatsächlich geht mit einem Fortschritt kapitalistischer Produktionsweise und Vergesellschaftung der gegenteilige Prozess einher. Konkurrenz und Leistungsdruck entfremden die Menschen voneinander; unterm Wachstumsparadigma zerfällt die Gesellschaft in Leistungsträger und Überflüssige. Erfolg hat in der Massengesellschaft immer auch den Charakter des Emporkommens.
“Da das Prinzip des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht rein der Natur entstammt, muß [sic] es die natürlichen Organismen sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemeinschaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Masseteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen.”[1]
Ich bin ein Star, holt mich hier raus!
Doch die Grenzen sind fließend und wer gestern noch Leistungsträger war, kann morgen schon abgeschrieben sein. Aus der Masse der disponiblen Individuen tun sich scheinbar zufällig immer wieder Einzelne hervor, die der Beliebigkeit entgehen, weil sie sich “einen Namen machen”. Die “Stars” der Gesellschaft fungieren als Projektionsfiguren, die die Hoffnung aufrecht erhalten, dass man selbst es auch irgendwann schaffen kann.
Die Kulturindustrie hatte immer schon vor allem die Funktion der Zerstreuung. Mitgetragen wird diese immer zugleich durch die Möglichkeit durch das Publikum, sich mit den Protagonisten ersatzweise zu identifizieren, weil diese, im Gegensatz zu jenen, diejenigen Konflikte, die jene als leidvoll empfinden, zu bewältigen und zu lösen vermögen. Insofern eignet sich diese epochale Krise gerade nicht als Stoff für einen Blockbuster. Denn vor allem das Fehlen von Handlungsoptionen und das Eindämmen sozialer Interaktion waren für die meisten Menschen im Lockdown die bestimmendsten Bedingungen. In einer solchen Umgebung entspinnt sich keine Heldengeschichte.
On Sale
Welche ästhetische Erfahrung ist in der Massengesellschaft und Massenkultur möglich? Gerade im Lockdown hat sich gezeigt, dass Ästhetische Erfahrung als konsumierbare Ware verwaltet wird. Denn weil Kunst und Kultur im Ausnahmezustand als verzichtbar ausgesetzt wurden, wird offenbar, dass sie einen bestimmten, wenn auch geringen, weil verzichtbaren, Wert haben. Das Fehlen der Zerstreuung ist ein Indiz dafür, dass ästhetische Erfahrung, wenn sie gefällig ist, zur nun ausgesetzten Normalität gehört. Sind das die Symptome einer Gesellschaft des Spektakels[2]? Es liegt offenbar nahe und ist auch schon vor einiger Zeit erkannt worden, dass die Sphäre der ästhetischen Produktion, des künstlerischen Schaffens, ebenso den Regeln der kapitalistischen Wertschöpfung unterliegt, wie alle anderen Bereiche auch.
Doch es geht noch weiter.
Die Ästhetik der Massen
Auch die Masse selbst entwickelt eine eigene ästhetische Kraft. Man denke an die Ränge im Fußballstadion, auf denen die Fans eine Gemeinschaft bilden, deren archaische Gewalt mitreißend ist. Doch auch weniger inszenierte Massenphänomene besitzen eine eigene ästhetische Form, die sich immer wieder konkretisiert und die meist jedoch lediglich von außen als solche zu erkennen ist. In einer Stadt, wenn man durch sie hindurch läuft, könnte es einem fast so erscheinen, als bestünde sie nur aus Straßenzügen: Fassaden, Wegen, Plätzen, Menschen, Fahrzeugen und Eingängen. Doch von oben betrachtet fällt auf, dass diese öffentlichen Räume nur so etwas wie Ströme eines insgesamt größeren Musters bilden. Diese Muster treten im Kleinen und im Großen auf. Regierung bedeutet immer auch, diese Massen zu verwalten, obwohl gleichzeitig, wie im Fall von China, das Bedürfnis besteht, immer differenzierter auf die Masseteilchen zugreifen zu können. Die Masse bleibt, Technik hilft.
Die Technik der Verwaltung
Eine besondere ästhetische Qualität haben in der Vergangenheit digitale Begegnungen entwickelt. Ob Freizeit oder Arbeit – im Lockdown wurden Begegnungen, aus gutem Grund, in digitale Räume verlagert. Das Angesicht, aus philosophischer Sicht essentielles Moment aufrichtiger Anerkennung, wurde zur digitalen Maske. Die Unmittelbarkeit des Anderen wurde damit auf die mehr oder weniger korrekte Darstellung von Pixeln verlagert. Auch die Darstellung der je zugewiesenen Portraithaften Fenster in der Videokonferenz wurde, ermöglicht durch dafür entwickelte Technologie, zur vorgefertigten Anordnung sozialer Interaktion.
Fluchtpunkt: Langeweile
Muße ist ein Luxus. Selbst und vor allem im Lockdown wurde offenbar, in welchem Missverhältnis Beschäftigung und Muße stehen. Während auf der einen Seite der Zwang zur Wirtschaftlichkeit als Glück zu arbeiten verkauft wurde, wurde andererseits die Eintönigkeit der privaten Langeweile, in der die Vergnügungen des öffentlichen Lebens fehlen, als Verzweiflung erlebt. Eingespannt zwischen Lohnarbeit und Unterhaltungsindustrie ist das Individuum bloß einer von Vielen – kein Besonderer. Dem entgegen steht das Bedürfnis zur Selbstverwirklichung, zur Expression von Besonderheit, die aber auf Lohn und Brot angewiesen ist. So kommt es, dass Lohnarbeit in der Gegenwart im Gegensatz zur Hegelschen Idee von Arbeit steht. Dieser konzipierte jene als subjektive Reflexionsform in der Welt. Das Subjekt, das arbeitet, erkennt sich in seinem Werk wieder und gewinnt so Selbstbewusstsein. Das Subjekt in der Lohnarbeit wird von der Beschäftigung, die ihm die Existenzgrundlage sichert, davon abgehalten, sich durch sein eigenes Werk in der Welt wiederzuerkennen. es bleibt sich und der Welt äußerlich, entfremdet. Dabei stets von der Angst verfolgt, austauschbar zu sein, als Einzelnes nicht Besonders, sondern eines von Vielen zu sein. Das ist ein Massenphänomen.
Kollektives Ornament
Selbstverständlich findet der Eintritt in die Masse nicht überall statt, doch wenn, dann zehrt sie von den beschriebenen Mechanismen. In der mußevollen Beschäftigung besteht die Möglichkeit, das Anerkennungsverhältnis zwischen Subjekt und Werk wieder herzustellen. Im gemeinschaftlichen Werk verblasst die Disponibilität und das kollektive Ornament wird zum Kunstwerk, weil die Masse sich als Gemeinschaft stiftet.
[1] Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 2021, S. 53.
[2] Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.
Thomas Lassner
hat in Bonn Philosophie und Musikwissenschaften studiert. Neben einem Promotionsprojekt an der HBKSaar bestreitet er seinen Broterwerb als Onlineredakteur. Er forscht und arbeitet an einer Metatheorie der Utopie. Zu den wichtigsten Strängen seiner Arbeit gehören der Deutsche Idealismus, allen voran die Hegelsche Dialektik, sowie eine intensive Auseinandersetzung mit ideologischen Formationen wie Rassismus und Antisemitismus. Gegenwärtig resultiert das in einer umfassenden Beschäftigung mit Kritischer Theorie, insbesondere der Negativen Dialektik. Ausgehend von Adornos utopischen Hoffnungen in Bezug auf die Kunst untersucht TL ästhetische Theorie und Praxis einschließlich ihrer Vermitteltheit in soziale Konstellationen. Unbeadable Space fügt sich als ein praxeologischer Anwendungsfall in seine Forschung ein.
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